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Michael Bock

Neue Genossenschaften braucht das Land

Eine alte Idee in neuem Gewand
Gegenwärtig firmieren in der Bundesrepublik Deutschland etwas über 9000 Unternehmen als eingetragene Genossenschaften (eG). Erstaunlich ist, dass in diesen fast 20 Millionen Mitgliedschaften zu verzeichnen sind. Statistisch gesehen ist also jeder vierte Deutsche Mitglied einer Genossenschaft. Trotzdem wird diese Organisations- bzw. Unternehmensform im öffentlichen Bewusstsein kaum wahrgenommen. Unterstrichen wird dies durch die geringe Zahl von Neugründungen.

Im Genossenschaftsgesetz von 1889 wird eine Genossenschaft folgendermaßen definiert: „Gesellschaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl, welche die Förderung des Erwerbes oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes bezwecken (Genossenschaften), namentlich...“ und dann folgt eine Aufzählung der damals typischen Genossenschaftsformen.
Es ist also nicht von einer Kapitalgesellschaft die Rede, sondern von einer Gesellschaft, die den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder zu fördern hat. Und damit sind wir beim Kern der Sache: Diese Förderungsgesellschaft, auch Genossenschaft genannt, dient dazu ihren Mitgliedern Nutzen zu spenden.

Die Genossenschaft ist eine Organisationsform zwischen Kapitalgesellschaft und gemeinwirtschaftlichem Unternehmen, in der die Begünstigten zugleich Kapitalgeber, Entscheidungsträger und Kontrolleure der Organisation sind.1 Die Genossenschaft ist daher durch eine Doppelnatur charakterisiert. Die Mitglieder sind gleichzeitig Anteilseigner, Entscheidungsträger und Leistungsabnehmer bzw. Nutznießer gemeinsamer Tätigkeiten.

In diesem Zusammenhang greift der Begriff „Selbsthilfe“. Selbsthilfe ist das wichtigste Merkmal jeder genossenschaftlichen Tätigkeit. Er ist nicht gleichbedeutend mit Solidarität und Gegenseitigkeit, sondern ist vordergründig auf eigene Interessen gerichtet.

Selbsthilfe kann nur durch Zusammenarbeit der Mitglieder in der Gruppe realisiert werden. Selbsthilfeorganisationen arbeiten daher auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe und Solidarität der Mitglieder untereinander. Dies bedeutet aber nicht Selbstzweck, sondern ist notwendiges Mittel zur Erreichung des Zwecks der Förderung der individuellen Interessen des einzelnen Mitglieds.2

Die Genossenschaft ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das sich im Eigentum seiner Träger (Mitglieder oder Genossen genannt) befindet. Die Förderung der Träger erfolgt durch Leistungen des Gemeinschaftsbetriebes, im Gegensatz zu anderen Unternehmen der Privatwirtschaft, die sich durch Gewinnstreben auf Märkten auszeichnen. Letztere sollen ein Maximum an Gewinn für das investierte Kapital erwirtschaften und stellen damit eben keine förderungswirtschaftliche, sondern eine erwerbswirtschaftliche Unternehmung dar.

Genossenschaften sind immer dann gegründet worden, wenn insbesondere wirtschaftliche Schwierigkeiten aufgetreten sind oder wenn die Menschen aufgrund politischer Niederlagen resigniert haben. So zum Beispiel nach dem Ende des ersten Weltkrieges, als die sogenannte Sozialisierungsdebatte im Deutschen Reichstag eingestellt wurde. Die Folge war eine Welle von Genossenschaftsgründungen vor allem im Wohnungsbaubereich, bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs (Konsum, Edeka, Rewe) und im Bereich der Arbeitsplatzschaffung und –sicherung (Produktivgenossenschaften).

In der Gegenwart ergeben sich neue Ansätze aus Erfahrungen von Genossenschaften in anderen europäischen Staaten, wie z.B. in Frankreich, wo der Begriff economie sociale geprägt wurde, der in Deutschland im weitesten Sinne als Solidarwirtschaft bezeichnet werden kann. Aber auch in Schweden, Belgien, Großbritannien, Spanien und Italien gibt es verwandte Begrifflichkeiten und Problemlösungsansätze ausgehend von genossenschaftlicher Wirtschaftsweise.

Diese Erfahrungen können auch für Deutschland genutzt werden
In letzter Zeit wird immer häufiger z.B. der Begriff der „Sozialgenossenschaft“ gebraucht. Dieser bezieht sich teilweise auf die „economie sociale“ französischer Prägung, jedoch noch viel mehr auf das italienische Modell der „cooperativa sociale“. Es handelt sich in Italien3 i.d.R. um Produktivgenossenschaften, die soziale Dienste jeglicher Art durch qualifizierte professionelle Mitglieder anbieten. Sie haben regionale Verbundstrukturen gebildet, die dem Genossenschaftswesen in den meisten Ländern immanent sind. Dies führt zu einem verbesserten Leistungsangebot.

Diese Form der Kooperative wird wegen steuerlicher Vergünstigungen und wegen der Selbstverwaltung (“senza padrone, ohne Boss“) gewählt.
In Deutschland wären Sozialgenossenschaften4 denkbar, die sich z.B. mit Altenpflege in Form von Seniorengenossenschaften, mit der Ausbildung und Betreuung von Jugendlichen, mit der Betreuung von Menschen mit Behinderungen (sogenannte Assistenzgenossenschaften), mit dem Betreiben von Kindertagesstätten usw. befassen. Hier können die Bürger durch Selbsthilfe ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.

Gegenwärtig befasst sich unser kleiner, junger genossenschaftlicher Prüfungsverband mit Sitz in Berlin auch mit neueren Formen der Genossenschaften, z.B. Stadtteilgenossenschaften, in denen Bewohner eines Kiezes Mitglied werden können. Solche Genossenschaften können sich mit kulturellen Aspekten, mit Beschäftigungsinitiativen und/oder mit Wohnungsbau und vielem mehr befassen. Hier können auch Vernetzungsstrukturen mit anderen Organisationen zu Stande kommen, Kaufleute und Gewerbetreibenden des Stadtteils können sich z.B. als Werbegemeinschaft über die Stadtteilgenossenschaft organisieren, oder die Genossenschaft sorgt über ein Punktesystem dafür, dass den Bewohnern des Stadtteils, die Mitglied geworden sind, Einkaufsvorteile bei der örtlichen Kaufmannschaft eingeräumt werden. Die Genossenschaft würde sozusagen als Plattform für die Darstellung des Kiezes nach außen wie nach innen fungieren. Gerade in strukturschwachen Stadtteilen (z.B. in Berlin) könnte dadurch die lokale Ökonomie gestärkt werden. Durch Schaffung einer Verbundstruktur innerhalb der Genossenschaftsorganisation, durch die Verbindung von Wohnungs-, Energie- Produktiv- und Stadtteilgenossenschaften können darüber hinaus sogenannte Synergieeffekte erzielt werden.

Dies gilt genauso für die Anforderungen auf dem Land. Dorfgenossenschaften wie sie z.B. in Schweden existieren, wären in der Lage vor allem in strukturschwachen Gebieten die lokale Ökonomie zu stärken, in dem z.B. über die Genossenschaft Dienstleistungen angeboten werden, die ein herkömmlicher Unternehmer in der Region oder im Dorf nicht anbieten. Die Genossenschaft würde von den Bewohnern des Dorfes oder der Region viele kleine Geschäftsanteile einsammeln, die Mittel bündeln und bedarfsorientiert Dienstleistungen und Waren anbieten.5 Regionalvermarktungsgenossenschaften der Bauern (vor allem Ökobauern) würden Überschüsse ihrer Mitglieder anbieten und über Dorfgenossenschaften vertreiben können. Die zunehmende Überalterung der Bevölkerung könnte abgemildert werden, weil diese Genossenschaften in der Lage wären, Arbeitsplätze zu schaffen. Es wäre vorstellbar, einen Großteil der Arbeitsfördermittel nicht in unsinnigen kurzfristig angelegten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu verheizen, sondern die Entstehung solcher dauerhaften Organisationen endlich in Angriff zu nehmen.

Ein weiterer Schwerpunkt können sogenannte Produktiv- oder aber auch Professionsgenossenschaften sein, die als Arbeitsförderbetriebe für Beschäftigung sorgen mit der Maßgabe, dass z.B. aus der Langzeitarbeitslosigkeit Kommende nach einer Ausbildungs- und Eingewöhnungszeit ihren Arbeitsplatz selbst gestalten, indem sie Mitglied der Genossenschaft werden und mit dem Risiko wie andere Unternehmensgründer gemeinsam mit anderen ein Geschäft betreiben. Insolvenzgefährdete Betriebe könnten als Genossenschaft von den Beschäftigten übernommen werden. Beispiele für erfolgreiche Beschäftigungs Buy Outs gibt es genügend in der EU. Hier wären insbesondere die Gewerkschaften gefragt, die sich überlegen sollten, ob zur Rettung von Unternehmen die Gründung von Aktiengesellschaften überhaupt sachgerecht ist.

Dadurch, dass die Beschäftigten am Kapital der Genossenschaft beteiligt sind, ergeben sich folgende Vorteile:
a.     Motivation: Produktivität, Arbeitsleistung, Kostenbewusstsein, Interesse, Einsatz, Identifikation, Mitdenken, wirtschaftliches Verständnis.
b.     Finanzierung: Erhöhung des Eigenkapitals, Verbesserung der Kapitalstruktur, zusätzliche Liquidität.
c.     Partnerschaft: Abbau der Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit, verstärkte Mitverantwortung, Mitsprache und Mitwirkung an der Willensbildung, Eigentümermentalität, Verbesserung des Betriebsklimas, Teilhabe am Erfolg, Anspruch auf Gewinn, leistungsbezogenes Entgelt.
d.    Mitarbeiterpotential: Reduzierung der Fluktuation, Bindung an den Betrieb, Betriebstreue, verbesserte Position am Arbeitsmarkt, Fehlzeitenverringerung.

Neue Aufgaben für Genossenschaften
Anstatt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, wäre es sinnvoll, durch geeignete Förderung von Produktivgenossenschaften Arbeitslose in Selbstverantwortung sich zusammenfinden und am Markt Leistungen anbieten zu lassen.

Neue Aufgaben für genossenschaftliche Lösungen wären vorstellbar im Bereich Forschung und Entwicklung oder im Bereich der Kreislaufwirtschaft, für regionale Energie- und Nutzwasserkonzepte und Insellösungen im Bereich Wohnen und Arbeiten kombiniert mit neuen Energie- und Nutzwasserkonzepten, im Bereich des Internet, der Telekommunikation, der Aus- und Weiterbildung, der sozialen Dienstleistungen, des Verkehrs usw. Vor allem in Ostdeutschland wird nach solchen genossenschaftlichen Lösungen in den genannten Bereichen gestrebt. In Westdeutschland hat man den Eindruck, dass die Beharrungskräfte, die sich gegen genossenschaftliche Lösungen aussprechen, wesentlich größer sind. Dies liegt vor allem darin begründet, dass dort der Strukturwandel wesentlich langsamer voranschreitet als in Ostdeutschland und dass die Form der Genossenschaft relativ unbekannt ist. Die genossenschaftliche Wirtschaftsweise wird vielfach nicht verstanden wird ist sogar unbekannt. Junge Genossenschaften sind in der Regel bestrebt, viele Menschen einzubeziehen, da sie auch deren Kapital benötigen. Sogenannte Fördermitglieder sind für die Genossenschaften sowohl als ideelle wie als kapitalgebende Mitglieder sehr wichtig.

Die Betätigungsfelder für Genossenschaften sind weit gefächert. Dem „shareholder value“ als Primat privatkapitalistischer Wirtschaft im Interesse der Anteilseigner, ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Zielstellungen, setzen Genossenschaften den Nutzen für möglichst viele von ihrer Tätigkeit Betroffene, den sog. „stakeholder value“ entgegen. Unter diesem Gesichtspunkt können Genossenschaften angesichts der Diskussionen um Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung, ökologische Verträglichkeit, Klimaschutz und soziale Ausgewogenheit als zukunftsweisende Organisationsform angesehen werden.

In Umbruchsituationen oder wenn die Menschen erkannten, dass ein bisher eingeschlagener Weg offensichtlich in die falsche Richtung geführt hatte, gab es Menschen, die mit Hilfe genossenschaftlicher Organisation und Wirtschaftsweise eine Problemlösung angeschoben haben. Sie waren immer Vorreiter von Entwicklungen. So könnte es auch jetzt sein, wenn versucht würde, die aktuell anstehenden Probleme mittels genossenschaftlicher Wirtschaftsweise lösen zu helfen.

Anmerkungen
1    Vgl. Münkner, Hans-H., Econimie Sociale aus deutscher Sicht, Veröffentlichung des Instituts für Genossenschaftswesen an der Philipps-Universität Marburg, (Marburger Beiträge zum Genossenschaftswesen;30 Marburg 1995, S. 12
2    Vgl. ebenda, S. 13
3    Vgl. Rural europe Bibliothek, Bildung und berufliche Eingliederung im ländlichen Raum, Italienische Sozialgenossenschaften: ein übertragbares Modell?, LEADER Magazin Nr. 10, Winter 1995-96
    Vgl. auch: v. Randow, Matthias, Genossenschaftsförderung in Italien – Ein Beispiel für Auswege aus der wirtschaftspolitischen Erstarrung? Eine Einführung aus politischem Interesse.
4    Vgl. Flieger, Burghard, Sozialgenossenschaften: Neue Kooperativen zur Lösung gemeindenaher Aufgaben, aus: Thilo Klöck (Hg.), Solidarische Ökonomie und Empowerment, Gemeinwesenarbeit Jahrbuch 6, AG SPAK – Bücher, Neu – Ulm 1998, S 137 ff
5    „Festzustellen ist, dass Kommunen mit wenigen Einwohnern mit dem vorhandenen Dienstleistungsangebot nicht zufrieden sind. Am stärksten befürchten die Bürgermeister den Verlust des Postamts (21 Prozent der Bürgermeister), eines Geschäfts (11 Prozent), des Bahnhofs (11 Prozent), der Grundschule (9 Prozent), des Krankenhauses (7 Prozent) und der Gaststätte (3 Prozent). Am auffälligsten ist in zahlreichen kleinen Kommunen die Abwesenheit von Geschäften (28 Prozent), öffentlichen Nahverkehrsangeboten (19 Prozent), Pflegediensten für ältere Mitbürger (10 Prozent), von Kinderkrippen oder Kindertagesstätten (7 Prozent ), Sporteinrichtungen (5 Prozent ), Apotheken (5 Prozent), und Jugendzentren (4 Prozent).“ Aus: Rural Europe, Entwicklungen von Dienstleistungen für die Bevölkerung im ländlichen Raum, S. 3 (http://www.rural-europe.aeidl.be/rural-de/biblio/services/art01-2.htm

 

Email: Michael Bock
Michael Bock, 43 Jahre, Diplom- Kaufmann, ist Vorstandsmitglied des Prüfungsverbandes der klein- und mittelständischen Genossenschaften e.V. Berlin (Lützowstr. 102-104, 10785 Berlin
Seit ca. 10 Jahren als genossenschaftlicher Verbandsprüfer tätig. Spezialisiert auf Neugründungen von Genossenschaften mit Ausnahme von Banken und Versicherungen. Mitgründungsinitiator des Prüfungsverbandes der klein- und mittelständischen Genossenschaften e.V.
Letzte Veröffentlichungen:
Zur Lage und Geschichte des Genossenschaftswesens. In: Maecenata Actuell Nr. 16, Berlin Juni 1999. Maecenata-Actuell ist das Informationsmedium des Maecenata Instituts für Dritter-Sektor-Forschung.
Genossenschaften gestern und heute, Berlin 1999
Zum 10 jährigen Bestehen der "Heizung und Sanitär Woltersdorf e.G." eine kleine Denkschrift zum Thema: Die Geschichte und Entwicklung des modernen Genossenschafts- und genossenschaftlichen Prüfungswesens, Berlin 2000
Genossenschaften, ein Beitrag zum Thema Neue Genossenschaften und lokale Ökonomie, Berlin 2000

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