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Barbara Dribbusch

Wir alle sind Unternehmer

Eine Hure verteidigte einst im Erfahrungsbuch einer Berliner Nutten-Selbsthilfegruppe ihre Arbeit: Sie höre den ganzen Tag gute Musik, lerne Männer kennen, habe viel Sex und verdiene damit einen Haufen Geld: „Eigentlich habe ich doch einen klasse Job“, meinte die Frau. Ironie war aus dem Text nicht erkennbar. Wie weit kann man Dinge umdeuten, ohne wahnsinnig zu werden? Das ist die interessante Frage. Sie spielt in der Prostitution eine gewisse Rolle, viel mehr aber noch in der Politik. Vor allem in rot-grüner Politik.

Rot-grüne Politik ist eine Politik der schleichenden Umdeutungen, so zeigt sich jetzt nach zwei Jahren. Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung: Das wurde vor Jahrzehnten von Sponti-Linken noch als Utopie beschworen. Kann man heute alles haben – und damit sogar noch Geld verdienen, so lautet das heimliche Versprechen. Verwirklicht euch! Werdet selbstständig! Bestimmt selbst über eure Rente, euren Bildungsstand, euer Geld. Am besten: Werdet euer eigener Unternehmer! Das ist das neue Leitmotiv zwei Jahre nach Amtsantritt von Rot-Grün.

Die neue Ideologie der Selbstbestimmung durchzieht die Politik der Arbeitswelt, der Altersvorsorge, des Lernens. Notwendig für eine „sich zunehmend individualisierende Gesellschaft“ etwa sei „die Anpassung der (Arbeitszeit-)Regelungen an heutige Bedürfnisse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, um Raum für freiwillige betriebliche, beziehungsweise individuelle Vereinbarungen zu schaffen“, erklärt die wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Margareta Wolf. Das müsste sie mal den allein erziehenden Verkäuferinnen erklären, wenn die Läden künftig bis 22 Uhr öffnen dürften, wie von den Grünen gefordert.

Arbeitszeiten richten sich in erster Linie nach wirtschaftlichen Erfordernissen. Die neue Flexiblisierung ist nichts anderes als Anpassung an den harten Wettbewerb. Doch man beachte die Umdeutung: Aus ökonomischer Anpassung wird „mehr Raum für individuelle Vereinbarungen“.
Wolf schwärmt von der neuen Firmenkultur in der IT-Branche. „Die Hierarchie wird ersetzt durch das Netzwerk.“ Doch in Gestalt der neuen „flachen Hierarchien“ kehrt der alte linke Traum vom selbstbestimmten Kollektiv nur scheinbar wieder. In Wirklichkeit werden aus den neuen Multimediafirmen Unangepasste sehr schnell ausgegrenzt, weil eine komplexe Gruppendynamik ein gutes Selbstmanagement der Gefühle erfordert. Nur: Von den Ausgegrenzten erfährt man meist nicht mehr viel.

Wer heute Langzeitarbeitslose interviewt, dem fällt auf, dass es oft Persönlichkeitsmerkmale sind, die die Leute gemeinsam haben: Langsamkeit, Eigenbrödelei, Unsicherheiten im Umgang, kurz: soziale Unattraktivität. Während früher die Antipsychiatrie noch einen vagen Zusammenhang herzustellen versuchte zwischen Austicken und Gesellschaft, ist heute tonnenweise Psycho-Beratungsliteratur zum Selbststyling auf dem Markt.

Mehr Selbstverantwortung für alle – mit dieser Verlockung wird auch der Abbau des gesetzlichen Rentensystems geschmückt. Künftig wird der so genannte Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Rente kaum noch erhöht. Stattdessen sollen die Beschäftigten selbst mehr Geld zurücklegen fürs Alter. Der Druck zur Eigenvorsorge wird bemäntelt mit dem Satz, damit könne man die „Möglichkeiten zu höheren Renditen“ auf dem privaten Kapitalmarkt im Vergleich zur gesetzlichen Rentenkasse „besser nutzen als bisher“, wie es in einer Schrift von SPD-Sozialminister Walter Riester heißt. So kann man auch umdeuten, was in Wirklichkeit nur meint: „Die gesetzlichen Rentenkassen zocken euch Junge ein bisschen ab. Aber zum Glück könnt ihr euer Geld außerdem noch auf dem privaten Kapitalmarkt anlegen.“ Unter Rot-Grün hat sich der Anteil der Aktionäre fast verdoppelt.

„Die Techniken des Selbst und der Selbstverwirklichung sind heute das Terrain, auf dem die kulturellen Distinktionen ermittelt und Hierarchien ausgehandelt werden“, glaubt der Kulturkritiker Diedrich Diederichsen. Die einen sind besonders gut im Management des Selbst, die anderen scheitern regelmäßig daran.

Zum Beispiel beim Selbstmanagement des Lernens, was nichts anderes heißt als eine neue Instrumentalisierung von Erfahrung. „Lernen muss zum Beruf werden“, erklärt der parteilose Wirtschaftsminister Werner Müller. Denn schließlich, so Müller, veralte berufliches Wissen inzwischen schon nach zwei bis drei Jahren. Die Menschen müssten „lernen zu lernen“.

Das klingt erstmal gut. Denn um die Freiheit zur lebenslangen Weiterentwicklung sorgte sich früher auch die Linke. Niemand erschien bemitleidenswerter als der Fabrikarbeiter, der tagaus, tagein in die gleiche Tretmühle musste. Doch heute wird die lebenslange Weiterentwicklung zum neoliberalen Imperativ. Erneuere dich selbst – aber so, dass es sich lohnt!

Doch viele Leute lernen garantiert das Falsche oder kaum noch etwas Neues hinzu. Die Identitätsbildung in ethnischen Subkulturen beispielsweise ist wirtschaftlich wertlos. Und Frauen, die keine Wahl haben, als neben der Kindererziehung dreimal in der Woche bei Schlecker an der Kasse zu sitzen, können nicht in gleichem Maße dazulernen wie Youngsters im Startup-Unternehmen.

Dennoch ist das neue Lob der Selbstbestimmung heute jeglicher Solidaritätsideologie überlegen. Verlass dich lieber auf dich selbst als auf die ÖTV! Das leuchtet ein. Denn längst kommen sich die Fronten im Sozialstaat, die Fronten zwischen Alten und Jungen, Unternehmern und Beschäftigten, Erwerbstätigen und Arbeitslosen, Reichen und Armen gegenseitig in die Quere.

Wer eine Gesamtideologie des „besseren Lebens für alle durch Solidarität“ verkündet und in Wirklichkeit nur noch Gruppeninteressen vertritt, wirkt verlogen. Am zweifelhaften Gewerkschaftsprotest gegen die Rentenreform ist das leicht zu sehen.

Je mehr die Gewerkschaften nur noch an Ängste appellieren, desto mehr setzen die Verfechter der neuen Selbsttechnologien auf das Lustprinzip. Und das ist ein unschlagbarer ideologischer Vorteil. Selbst ein Erfahrungsbericht der IG Metall zur Einführung „flacher Hierarchien“ bei IBM muss einräumen: „Viele KollegInnen empfinden das selbstständige Arbeiten als eine begeisternde Möglichkeit, die eigenen Kräfte zu erproben. Hier entwickelt sich eine Dynamik, die den ganzen Menschen ergreift und der man sich kaum entziehen kann.“

Es geht also um den ganzen Menschen – und der hat die Fähigkeit, die Dinge bei Bedarf auch mal ganz anders zu sehen. Das gilt für die Prostitution. Und für die Politik.

 

Barbara Dribbusch, Jahrgang 1956, hat Soziologe und Amerikanistik studiert und sich während ihres Studiums vor allem mit Macht- und Medientheorien beschäftigt. Nach langjähriger Arbeit als Lokalreporterin in Berlin kam sie vor einigen Jahren als feste Autorin zur taz und beschäftigt sich dort vor allem mit sozialen Themen. Ihr Augenmerk liegt auf der Frage, wie sich Machtverhältnisse nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in Biographien auswirken.
Quelle: TAZ v. 27.10.2000

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