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Jaap van Leeuwen

Portrait: Paul Dijkstra aus Utrecht – Wie ein Ideal gebrauchsfähig wird

Etliche Spuren hat der mittlerweile über 60jährige Paul Dijkstra in der Alternativen Ökonomie der Niederlande hinterlassen. Schon als Kind war er sich bewusst, dass es einen Unterschied gibt im Bewusstsein und in der Art, wie Kinder und Erwachsene die Welt erfahren. Erwachsene reagieren und fühlen anders, scheinen oberflächlicher mit der Wirklichkeit umzugehen. Er begann ein Tagebuch zu führen, damit er auch später noch wisse, was er damals von der Welt dachte. Dieses Bild kam ihm im Laufe der Zeit abhanden, genau wie sein Tagebuch.
Seit Anfang der achtziger Jahre berät und betreut Paul Dijkstra Wohngemeinschaften, KünstlerInnen und HausbesetzerInnen-Kollektive hinsichtlich des Kaufs und der Bau-, Renovierungs- und Geschäftspläne. 1994 gründete er dafür die Beratungsfirme de Verandering in Utrecht. Der Betrieb hat momentan neun MitarbeiterInnen. Zusammen mit einer großen Gruppe von Wohnvereinigungen und Betrieben hat Paul Dijkstra 1975 den Verband de Vakgroep1 gegründet. Seine Arbeit bei der Verandering ist eingebettet in die Teilnahme an der Vakgroep und den Aufbau der Vereniging Solidair.

Diese Aktivitäten haben ihren Ursprung in den Anfängen der sechziger Jahre. Paul studierte erst Niederländisch, dann Philosophie: „Ich war ein sogenannter ewiger Student. Zusammen mit Freunden habe ich Kabarett gemacht und hatte eine Theatergruppe, um an Geld zu kommen. Ich habe auch einen Kindersparplan für die Raiffeisenbank erstellt. Außerdem habe ich das Nederlandse Instituut voor Kreatieve Expressie NIKE (niederländisches Institut für kreative Ausdrucksmöglichkeiten) gegründet und habe Kurse in Sprache und Kreativität gegeben. Ich habe ein Buch geschrieben über „kreatives Schreiben‘, um dem zuvorzukommen, dass sich jemand anders mit dem von mir entwickelten Stoff aus dem Staub macht“

Während der Zeit des Vietnamkriegs war Paul Dijkstra aktiv in der „Dritte-Welt“-Bewegung und Mitglied des Afrika-Komitees. In den sechziger Jahren kam er im Kontakt mit der angolanischen Freiheitsbewegung: „Sie sagten, dass die Situation in Angola und die in Holland Ausdruck desselben Systems wäre, derselben Gesellschaft und dass man den Kampf in Angola für eine neue Gesellschaft am besten unterstützten könne, indem man im eigenen Land eben diese Gesellschaftsphilosophie bekämpfe und Alternativen dafür suche. Ich interpretierte das so, dass ich in Holland Alternativen aufbauen sollte, unabhängig vom Staat und vom Geschäftsleben, von unten her aufgebaut und ausgerichtet auf Teamwork und Solidarität unter den Menschen, die selber dabei mitmachen. Diese Idee ist 1967/68 im Grunde der Anfang der Vakgroep gewesen und noch immer die Grundidee einer Initiative wie Solidair.

Irgendwann wurde ich interviewt, ich weiß nicht mehr wann. Es ging um Regis Debray, Ché Guevara und die Unterstützung von Befreiungsbewegungen anderswo. Man fragte mich damals: Wenn du jetzt ein Flugticket geschenkt bekommen würdest und du würdest in Südamerika ankommen, würdest du dann, wenn dir ein Maschinengewehr in die Hand gedrückt würde, bei ihnen mitmachen und schießen? Meine Antwort war: Nein, ich würde das Maschinengewehr annehmen, den Rückflug nach Holland nehmen und hier schießen, aber gut, natürlich mit einer anderen Waffe. Die Waffen unserer Gesellschaft sind Geld, Organisation und Macht. Dieses Stück wurde übrigens aus dem Interview herausgeschnitten.“

Schließlich begann Paul Dijkstra, an einer weiterführenden Schule Unterricht zu geben und kommt damit in eine unruhige Zeit, in der er einige Schuldirektoren und mindestens fünf Entlassungsanträge überlebt. Er lässt Mopeds in der Klasse herumfahren, lässt SchülerInnen einen Tag pro Woche einander und den Lehrer unterrichten. Er lässt sie selber organisieren, worüber diese Unterrichtsstunden gehen sollen. An einem speziellen Tag am Ende des Schuljahres organisieren die SchülerInnen einen Tag der offenen Tür, an dem die Schule voll ist mit Infoständen von Aktionsgruppen und gesellschaftlichen Gruppierungen. Die SchülerInnen konnten selber Gruppen und Menschen aussuchen, die in ihrer Klasse mehr dazu erklären sollten. Die Idee einer Art Lebens- und Arbeitsschule hat Paul Dijkstra also schon im regulären Unterricht ausprobiert und sie auch mitgenommen in die Art und Weise, wie die Vakgroep Form bekam, die auch eine solche Schule sein könnte für Jung und Alt. Seine Ideen möchte er heute im Instituut voor Samen Scholing en Onderzoek (Institut für gemeinsame Schulung und Forschung), dem ISZO, weiter ausarbeiten. Es soll ein Aufenthalts- und Arbeitszentrum bekommen im Ganzennest in Viller, Nordfrankreich, wo schon jetzt eine kleine Gruppe der Vakgroep lebt.

Paul Dijkstra ging in den folgenden Jahren seinen Weg weiter. Er ist unten anderem Mitglied im Vorstand der Entwicklungsorganisation NOVIB2, mit all dem was dazu gehört: Er jettet von einer internationalen Konferenz zu anderen: „Bei NOVIB hatte ich das Gefühl, in einer Art Besprechungsclub von verschiedenen Organisationen gelandet zu sein. Man war immer abstrakt und hatte viel Abstand zum Thema der Entwicklung der Menschen in der ‘Dritten Welt’. Die einzigen Leute, die wirklich etwas zu sagen hatten, waren die Teilnehmerinnen der Frauenorganisationen. Zu dem Zeitpunkt, als jeder dazu aufgerufen wurde, sich innerhalb solcher Einrichtungen zu organisieren, den sogenannten ‘Marsch durch die Institutionen’ anzutreten, bin ich aus dem Vorstand ausgeschieden.“ Aber gilt hier nicht, dass es innerhalb des Spielraums genauso viele Möglichkeiten gibt wie außerhalb? „Es ist genauso wie mit der modernen Musik, die nicht auf Instrumenten basiert, sondern auf den unendlichen Möglichkeiten, Geräusche zu produzieren. Eine Geige ist eine Geige, damit kann man zwar eine Menge tun, aber es bleibt eine Geige und weil es ein Geige ist, kann man damit genial werden. Worum es mir geht ist: Die Welt funktioniert nicht gut und daran will ich etwas ändern. Letztendlich geht es darum, die Revolution auf die Beine zu stellen. Nicht die Revolution als Masse, sondern die Revolution als das, was Menschen miteinander kreieren und auf ihre eigene Art und Weise sagen: so geht es schon. Darum geht es hier, und damit bin ich noch immer beschäftigt. Gerade die Zusammenarbeit ist ein Problem, wenn man von Selbstverwaltung spricht, dann rufen die Menschen vor allem ‚selber‘, ‚ich dies‘, ‚ich das‘ und ‚du dies‘ und ‚du das‘, aber zusammen suchen, was man gemeinsam machen kann? Keine Chance! Jede Idee, die zur Zusammenarbeit führen könnte, ist niemals gut genug und deshalb tut man es dann lieber nicht und macht letztendlich gar nichts. Wenn du den ersten Schritt nicht setzt, wirst du das nie erfahren. Wir haben jetzt sozusagen von einem Kilometer die ersten zehn Meter zurückgelegt, aber das sind immerhin zehn Meter, und dann geht es weiter, solange man den ersten nicht getan hat, kommt man keinen Millimeter voran.“

Ein Beispiel versucht ein Wohngemeinschaftsprojekt in Zeist mit der Betonung des „sozialen Reichtums“, dem Genuss des Funktionierens in einem Kollektiv. Was kann man sich darunter vorstellen? Was muss man lernen und tun, um das zu erreichen? „Man muss aufhören, sich selbst anzulügen mit schönen Worten wie Autonomie oder Konsens. Wir können unsere Unzulänglichkeit wahnsinnig gut mit Worten vertuschen. Dem wirklich Inhalt zu geben, also das Ideal verwendungsfähig zu machen, erfordert entsetzlich viel. Wer das kann, kann sich selbst so entwickeln, dass er im Kollektiv badet, den sozialen Reichtum auf die Art erfährt, auf die man miteinander auch wirklich zusammenarbeiten kann. Und dass Armut wieder etwas wird, das man mit Würde erträgt, anstatt etwas zu sein, was einem widerfährt. Besitzlos sein ist eigentlich die idealste Situation und das, womit ich anfangen will beim ISZO: die innere Qualität, die zum zusammen Arbeiten gehört, die Nachhaltigkeit, wenn es um soziale Beziehungen geht, solche Dinge. Reichtum ist in dem, was man miteinander hat und ist und darin, wie man das auch für sich selbst gut benützen kann“

Das zusammen Arbeiten und Leben ist also das Ideal? „Ja, aber man sollte nicht die Menschen ignorieren, die etwa bei Shell oder einem Makler arbeiten, die die Idee der Selbstverwaltung eigentlich auch gut finden, nur eben diesen Schritt nie gemacht haben. Dafür muss man offen bleiben und denen auch genug Raum geben. Es ist nicht so, dass sich die ‘besten Leute’ in den besetzten Häusern oder Aktionsgruppen befinden. Es sind gute Leute und auch sehr gute. Aber solche gibt es auch an anderen Stellen, und man muss versuchen, miteinander etwas Neues zu gestalten. Und damit meine ich nicht Parteien wie etwa Groen Links, sondern einen selbstorganisierten Verbund von Leuten, die hier gestalten und investieren wollen. Da liegt noch ein langer Weg vor uns.“

Konkreter Ausdruck dieser Bemühungen ist die Vereniging Solidair. Was kann damit erreicht werden? „Eine breitere Struktur, in der nicht jeder alleine für sich arbeitet – mit einer Vielzahl von Betrieben und Initiativen zusammen arbeiten, forschen, Erneuerungen entwickeln und damit eine eigene Infrastruktur schaffen. Das haben wir noch nicht, wir entwickeln nichts, wir erforschen nicht, wie man Alternativen selber gestalten und tragen kann, und dafür braucht man gewisse Mittel. Es gibt immer Individuen, die sich selber in ihrer Freizeit etwas ausdenken. Aber welche Beziehung hat das zum Arbeitsverbund? Sind das wirklich die Instrumente, mit denen die Kooperation in der Lage ist, in ihrer Zielsetzung oder der Bildung wirklicher Alternativen zur heutigen Gesellschaft weiter zu kommen?“

So wie eine Gewerkschaft mit mehreren zehntausend Mitgliedern beispielsweiser in der Lage ist, in ökonomisch gut laufenden Zeiten einen Betrieb still zu legen oder bessere Gehälter zu erzwingen? „Ja, so etwas, aber als normal Bezahlter sollte man viel lieber versuchen, zusammen herauszufinden, ob die Gründung eines Betriebes möglich ist, der die Umwelt nicht verschmutzt, der nachhaltig wirtschaftet und mit dem man den ökonomischen Treibhauseffekt durch einen anderen Umgang mit Geld verhindern kann.

Stoppt den ökonomischen Treibhauseffekt ist nicht nur irgendein Ausruf, das muss man dann innerhalb der Organisation auch verwirklichen. Man wird dann gefragt: Warum werdet ihr kein Greenpeace und kauft von euren Mitteln eine ‚Ocean Warrior‘, um an Ort und Stelle das zu bekämpfen, was das Geschäftsleben falsch macht? Man muss eben selber das Geschäftsleben werden, das es richtig macht, und dafür braucht man alles Mögliche. Und wer macht so etwas? Das macht Shell. Shell entwickelt ein größeres Volumen an umweltfreundlichen Alternativen und Lösungen als alle anderen. Wenn wir uns damit beschäftigen wollen, brauchen wir wahrscheinlich ein noch größeres Budget als Shell. Weil wir aber aus einer anderen Ecke heraus operieren und vielleicht unsere eigene Energie produzieren oder nicht mehr so viel verbrauchen, kann das einmal eine ganz andere Relevanz erreichen, als es Shell möglich ist. Aber das geht nur, wenn die Leute Zeit haben, etwas derartiges auszuarbeiten. Und wenn wir das nicht erreichen, dann kann man die Welt noch so sehr mit Aktionen und Parteien unter Druck setzen, es würde nichts geschehen. Es geht also darum, dass man etwas selbst entwickelt .

Man muss seine Ideen jedoch auch weitergeben, sich öffentlich darstellen. Wir sind wer, und wir haben etwas zu sagen! Die Erfahrung der Protestbewegung – wie die gegen die Gründung des MAI3 oder die gegen die Globalisierung der Welthandelsorganisation – zeigt, dass man manchmal, wenn man zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort die richtigen Worte, die korrekte Formulierung findet, unglaublich viel Einfluss ausüben kann, dass man sehr schwierige internationale Prozesse beeinflussen oder sogar lahmlegen kann.
Ich bin davon überzeugt, dass Menschen sich überall mit solchen Dingen beschäftigen. Das ist das Prinzip auf das Rupert Sheldrake4 und die Vereniging Resonans sich beziehen. Überall protestieren Menschen und Gruppen und suchen nach Lösungen.“

Wäre das nicht ein wichtiges Ziel für Resonans, sich aktiv auf die Suche zu machen nach Menschen und Gruppen anderswo, die auf eine ähnliche Weise eine alternative Gesellschaft suchen? „Ja, und wir müssen begreifen, dass wir noch ganz viel lernen können von Beispielen aus der Dritten Welt, der Frauenbewegung und verschiedenen sozialen Gruppen, in denen allerlei Qualitäten selbstverständlich sind oder eine Gestalt annehmen, die wir für uns wieder erobern müssen, um zu sozialem Reichtum zu kommen. Das richtig einzufügen in ein modernes, beschwingtes Lebensgefühl und in ein aktives, vertretbares Dasein als Alternative zu dem, wie wir momentan leben, das ist die große Herausforderung für Solidair“.

Anmerkungen
1 Vakgroep (Vereinigte Arbeitskollektive): siehe auch Nils Buis: „Gelebte Alternativen“ im Europa-Teil dieses Jahrbuchs
2 NOVIB: privates niederländisches Hilfswerk für Länder der „Dritten Welt“
3   MAI (Multlateral Agreement on Investment): Multilaterales Abkommen für Investitionen, siehe dazu auch Einleitung des Kapitels „Widerstand gegen neoliberale Globalisierung“ in diesem Jahrbuch
4 Rupert Sheldrake entwickelte die Theorie der „Morphogenetischen Felder“, wonach Erfahrungen, die einmal irgendwo auf der Welt gemacht wurden, über diese Felder an andere weitervermittelt werden, die dann viel leichter ähnliche Probleme lösen können.

Jaap van Leeuwen arbeitet im Bereich Beratung nachhaltige Technologien, „ADT“ (Advies duurzame technologie). Er ist Mitglied des Vereins „Solidair“.
WEITERFÜHRENDE LINKS:
www.solidair.nl
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